Dienstag, 11. November 2025

Apropos Autismus: Prävention bei schon integrierten, hoch funktionalen Erwachsenen im Spektrum.

Apropos Autismus: Prävention bei schon integrierten, hoch funktionalen Erwachsenen im Spektrum.

Wenn Menschen mit einer hoch funktionalen Autismus-Spektrum-Störung ihren Platz im Arbeitsleben gefunden haben, ist das keine Selbstverständlichkeit. Es ist das Ergebnis eines beträchtlichen Einsatzes der Familien und einer verlässlichen Unterstützung durch Schulen und weitere Institutionen. Für kognitiv begabte Jugendliche und Erwachsene im Spektrum bedeutet eine gelungene Integration in den ersten Arbeitsmarkt einen wichtigen Schritt in Richtung Selbstständigkeit und Lebensqualität. Oft entsteht dadurch ein stabiles Fundament, das auch weitere Lebensschritte wie eine Familiengründung ermöglicht.

Doch genau an diesem Punkt taucht ein oft unterschätztes Risiko auf: die sogenannten Blockaden. Sie sind selten laut oder dramatisch, eher schleichend und verdeckt, manchmal getarnt als psychosomatische Beschwerden. Dennoch können sie einen einmal gefundenen Arbeitsplatz ernsthaft gefährden.

Blockaden treten häufig periodisch auf und werden von Neurotypischen nicht immer als Reaktion auf Überforderung erkannt. Manchmal genügt es, dass das Team gewachsen ist, die Fenster geschlossen bleiben oder die Klimaanlage brummt. Manchmal entstehen sie auf privater Ebene, etwa durch anhaltende Belastungen in der Familie. Eine meiner Klientinnen befand sich mitten in einer beruflich anspruchsvollen Phase, als gleichzeitig zwei Kinder in die Pubertät eintraten und fast täglich schulische Unterstützung brauchten. Die Kombination war schlicht zu viel.

In solchen Situationen übernehme ich oft eine Vermittlungsrolle zwischen Betroffenen und Arbeitgebern. Es ist eine Mediation im eigentlichen Sinn. Nicht, um Konflikte zu entschärfen, sondern um das stille, oft unsichtbare Gefüge der Arbeitsrealität für beide Seiten verständlich zu machen.

Arbeitgeber brauchen dabei vor allem drei Dinge.

Eine klare Diagnose, die Orientierung gibt, ohne den Menschen auf ein Etikett zu reduzieren.

Eine Möglichkeit, bei Bedarf Beratung in Anspruch zu nehmen. Oft reicht bereits ein punktuelles Coaching oder eine externe Fachperson, die das Arbeitsumfeld beobachtet und mitgestaltet.

Und drittens praktische Hinweise zum Umgang mit typischen Mustern. Diese sind nicht ausschliesslich autismusbezogen. Sie gehören zum Repertoire guter Personalführung.

In meiner Arbeit mit hochfunktionalen Erwachsenen im Spektrum begegne ich häufig denselben Herausforderungen. Viele sind irritiert von der heutigen Arbeitswelt, die von informellen Regeln geprägt ist: Grossraumbüros mit dauernder Geräuschkulisse, ein allgemeines Zurücktreten von Hierarchien, eine Du-Kultur, in der Hinweise des Chefs als unverbindliche Bemerkungen wirken, obwohl sie Arbeitsaufträge darstellen. Dazu ein Kommunikationstempo, das oft mehrdeutig und unstrukturiert bleibt. Missverständnisse stauen sich an, manchmal über Monate, bis das Team stillschweigend die Geduld verliert. Das Resultat ist dann nicht selten eine Kündigung.

Es gibt jedoch erprobte Möglichkeiten, diesen Risiken vorzubeugen.

1. Ein Outing. Dabei geht es nicht um die Diagnose, sondern um die Beschreibung relevanter Symptome und Bedürfnisse. Das kann bedeuten, dass jemand begrüsst, aber nicht immer zurückgrüsst, wenn er gedanklich tief in einer Aufgabe steckt. Oder dass zusätzliche kurze Pausen nötig sind, die möglichst allein verbracht werden. Oder dass soziale Routinen wie Znüni-Organisationen nur funktionieren, wenn die Abfolge klar kommuniziert wird. Und dass in der täglichen Arbeit unmissverständliche, strukturierte Anweisungen nötig sind, weil informelle Bemerkungen nicht als verbindlich erkannt werden.

2. Ein Pensum von höchstens achtzig Prozent. Diese Reduktion schafft Stabilität und verhindert Überlastung. Viele meiner Klientinnen und Klienten berichten, dass erst eine solche Anpassung ihre Leistungsfähigkeit langfristig sichert.

3. Flexibilität in den Arbeitszeiten. Schon die Möglichkeit, Stosszeiten im öffentlichen Verkehr zu umgehen, kann den Start in den Tag deutlich erleichtern und Überforderung vorbeugen.

4. Regelmässige kurze Pausen über den Tag verteilt, um Reize zu verarbeiten und die Konzentration wiederzufinden.

5. Ein verlässlicher, klar strukturierter Austausch zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitenden. Dazu gehört, Veränderungen frühzeitig anzukündigen, bevorstehende Belastungen zu benennen und die Erwartungen an Erreichbarkeit und Reaktionsgeschwindigkeit abzustimmen.

6. Eine begleitende Mediation durch eine Fachperson mit Erfahrung im Spektrum, um Kommunikationswege zu klären und Missverständnisse abzufangen, bevor sie sich verfestigen.

Die Schwierigkeiten, die Blockaden im Verlauf darstellen, sind ein häufiges Phänomen bei Menschen mit ASS. Die Muster, die sich hier zeigen, betreffen jedoch nicht nur Erwachsene. Kinder, ob mit oder ohne ASS, interpretieren Hinweise ihrer Eltern heute oft als unverbindliche Empfehlungen, da Eltern klare Ansagen und eine konsequente Begriffsverwendung weniger selbstverständlich praktizieren als früher. Das Resultat kann eine Anpassung sein, also eine Art soziale Glättung während der Ausbildung. In bestimmten schulischen Kontexten führt dies dazu, dass Jugendliche nach der obligatorischen Schule Mühe haben, sich mit den Anforderungen der Arbeitswelt auseinanderzusetzen.

Das Ziel ist nicht, Menschen anzupassen. Das Ziel ist, Bedingungen zu schaffen, in denen Integration gelingt und bestehen bleibt, je früher, desto besser. Denn das Potenzial hoch funktionaler Erwachsener im Spektrum ist gross. Es braucht lediglich einen Rahmen, der es sichtbar werden lässt.


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